Meine Begegnung mit Peter
Mai 21, 2021Manchmal lenkt man sein Leben. Manchmal fliegt man aus der Bahn. Gewollt oder ungewollt. Eine Verkettung unglücklicher und manchmal auch glücklicher Umstände. Ist das Glas halbvoll oder halbleer. Eine Medaille hat immer zwei Seiten und das Leben zweier Menschen verläuft komplett unterschiedlich. An einem Sonntag nahm ich einen Umweg in Kauf, um mein leben mit einer Kleinigkeit zu bereichern. Ich konnte nicht ahnen, dass der Umweg mein Leben für immer verändern würde, denn auf diesem Weg musste ich zunächst ein Hindernis mit meinem Auto umfahren.
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Ein Mann stand offensichtlich erschöpft auf der Fahrbahn mit seinem Fahrrad. Mitten am Tag mit sehr vielen Verkehrsteilnehmern. Bis ich gecheckt habe was da gerade passiert war, habe ich bereits einige hundert Meter zurück gelegt. Noch immer heftete mein Blick an dem Mann, den ich noch immer im Rückspiegel sah. Ich beobachte zeitgleich, wie viele Menschen an dem Mann, wie ich zuvor, vorbei gefahren sind und auch zahlreiche Fußgänger an ihm vorbeizogen, ohne ein Wort oder eine Hilfe. Ich wendete und fuhr bis zu dem Mann heran und lies das Fenster herunter und fragte ob es ihm gut ginge. Sein altes, klappriges Rad hatte einen Korb und am Lenker war eine Tüte befestigt, aus der ein paar alte Flaschen herausschauten. Ein Bild, das wir viel zu oft zu sehen bekommen. Doch wie an diesem Tag auch, nehmen die meisten das teilnahmslos hin. Sie sind zu sehr mit ihrem „Höher, schneller, weiter“ beschäftigt und graben weiter an ihrem eigenen Grab, anstatt die Augen zu öffnen und das zu sehen, was auf ihrer eigenen Straße gerade passiert.
Ich schaltete den Motor aus. Der Mann hing auf seinem Fahrrad. Regungslos. Ich war erleichtert, als er auf meine Nachfrage reagierte und sagte: „Ich brauche nur eine kleine Pause. Ich bin so erschöpft. Ich weiß nicht mehr weiter.“ Ich ging zu ihm rüber und wollte ihm auf den Bürgersteig helfen und das Fahrrad nehmen. „Nein, bitte nicht. Ich brauche das Fahrrad. Ohne kann ich nicht mehr gehen. Das ist mein Rollator.“ Zusammen haben wir es dann auf den Bürgersteig geschafft. Zeitgleich kam ein anderer Mann mit seinem dicken BMW auf die Auffahrt gefahren und fragte ob wir Hilfe brauchen. Der Mann antwortete. „Nein, danke!“ Der andere Mann wollte einen Krankenwagen rufen, was der Fahrradfahrer nicht wollte. „Ich habe kein Geld für mein neues Rezept. Ich brauche 20 Euro dafür. Ich habe Knochenkrebs. Ich habe überall Schmerzen. Ich muss Flaschen sammeln, damit ich das Geld zusammen bekomme“. Der andere Mann öffnete seinen Kofferraum und gab ihm ein paar Dosen und leere Flaschen im Wert von 1,50 EUR. Ich ging zurück zu meinem Auto und holte mein Portemonnaie. Ich wollte zu dem anderen Mann sagen, ob wir uns die 20 Euro teilen wollten, doch da knallte er schon die Kofferraum zu und ging mit der frisch duftenden Pizza in sein Haus. Ich nutzte die Chance und zückte ein paar Scheine und übergab sie dem Mann. Er zuckte, „Ist das ihr Ernst? Sie wollen mir 30 Euro geben?“
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„Ja, natürlich. Sie brauchen doch 20 Euro.“ Der Mann blickte verdutzt auf. Er konnte sich nicht mehr grade aufstellen. Er entschuldigte sich, das er mir nicht in die Augen schauen konnte. Er habe so furchtbare Schmerzen. Er hat sein ganzes Leben gearbeitet und ist am Ende. In seiner Wohnung ist vor kurzem noch ein Feuer ausgebrochen. Er hat viele seiner Möbel verloren. „Ich bekomme nur 320 Euro Rente und weiß momentan nicht wie es weiter gehen soll.“ Er bedankte sich mehrfach für das Geld. Jetzt kann er sich seine Medikamente holen und auch noch etwas zu essen. Er fragte nach meinem Namen und stellte sich vor. „Ich heiße Peter. Es freut mich Sie kennenzulernen.“ Er versuchte krampfhaft und unter sichtlichen Schmerzen sich aufzurichten und mir in die Augen zu schauen. Ich bückte mich und unsere Blicke tragen sich. Er bedankte sich erneut. Er fing an mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er habe die Schmerzen und das Leben seines Vaters übernommen. Peter ist 62 Jahre alt. Er habe viele Fehler gemacht, aber er war immer fleißig. Er hat seine Familie und seine Frau verloren. Jetzt lebt er allein.
Peter ist gebildet. Er möchte noch viel mehr über das Leben wissen. Er möchte wieder mal ein Buch lesen. Er gibt mir eine kurze Lektion in Geschichte und ich merke, was für eine Ungerechtigkeit uns treffen kann, wenn man mal einen kurzen Moment nicht aufpasst. Er erzählt von seiner Zeit bei der Armee, die er im Ausland verbracht hat. Er hängt wie so viele in diesem Alter, an eine Zeit die längst vergessen ist. Dabei stelle ich fest, das ich auch in dieses Alter komme. Wir leben nicht in einer Welt, in die man gerne hinein geboren wird. Alles geht und wird immer schneller. Das Leben sollte wieder mehr sein wie eine Schallplatte. Mit Knistern wie ein Lagerfeuer und Sprüngen, die das Leben zum stehen bringen, wenn es am schönsten ist.
Doch so wird es nie wieder sein. Wir erleben eine Zeit wo die Sherriffs von Nottingham regieren, nur dass das hier noch keiner so richtig mitbekommt. Es geht uns viel zu gut und das zeigt mir vor allem diese Begegnung mit Peter. Ich kann auf diese 30 Euro verzichten, wie sehr viele andere. Ich verdiene neues Geld oder ich verzichte auf irgendetwas, was mich sowieso nicht glücklich macht. Für Peter sind diese 30 Euro Luxus. Ein weiterer Monat ohne Schmerzen. Den Schmerz, den wir unserer eigenen Spezies durch unsere eigene Untätigkeit und Unfähigkeit hinnehmen. Dieser Schmerz wird nie vergehen. Er wird schlimmer und er hat uns längst gespalten. Die täglich zunehmende Empathielosigkeit ist allgegenwärtig und sie wird uns auffressen. Die, die noch mit dem Herzen sehen, bleiben jetzt noch stehen, doch in einer Welt, wo wir uns immer mehr von der Natur und uns selbst entfernen, wird es immer schwerer sich dem Wandel von Konzernen nach Macht und Korruption zu entziehen. Der Wandel wird uns alle treffen und die, die jetzt noch Schmerzen fühlen können, werden diese nicht mehr lange ertragen können. Er bleibt für immer. So wie meine Begegnung mit Peter, die mich jeden Tag erinnern wird anders zu sein und vor allem anders zu bleiben.